»Der Künstler tut nichts, was andere für schön halten, sondern nur, was ihm notwendig ist.«
Arnold Schönberg, Harmonielehre.

Arnold Schönberg ist Autodidakt. Vorübergehend erhielt er von Alexander von Zemlinsky Ratschläge über Komposition, aber nicht so sehr auf dem Wege des Unterrichtes, als dem freundschaftlicher Unterredung.
Jedoch, die phänomenale Höhe seines Könnens beweisen seine Werke und seine »Harmonielehre« verkündet der Welt in wunderbarer Weise den fabelhaften Reichtum seiner Erkenntnis.
Selbst von Gegnern ist die Virtuosität seines Könnens anerkannt worden. Man hat von seinen Werken als von theoretischen Spekulationen gesprochen; man hat ihn »Theoretiker« genannt; man hat ihm sogar die unerhörte Kunst seines Kontrapunkts zum Vorwurf gemacht.
Aber mit der Theorie kommt man seinen Werken nicht näher. Nur eines ist notwendig: das Herz muss offen stehn. Hemmungslos, ohne Vorurteile irgendwelcher Art, höre man Schönbergs Musik. Man lasse Theorie und Philosophie beiseite. In Schönbergs Werken ist nur Musik, Musik wie bei Beethoven und Mahler. Die Erlebnisse seines Herzens werden zu Tönen. Schönbergs Verhältnis zur Kunst wurzelt ausschliesslich im Ausdrucksbedürfnis. Seine Empfindung ist von versengender Glut; sie schafft völlig neue Ausdruckswerte, also braucht sie auch neue Ausdrucksmittel. Inhalt und Form sind ja nicht zu trennen.
Das erste grössere Werk, das Schönberg der Welt übergab, ist das Streichsextett op. 4, »Verklärte Nacht«. Der Partitur ist das Gedicht Richard Dehmels vorangestellt. Schönberg ist einer der wenigen, die in der Zeit, da Wagners Musikdramen fast ausschliessliches Vorbild der deutschen Komponisten waren, und fast jeder bemüht war, sich in Opern und grossen Orchesterwerken auszudrücken, zur Kammermusik griffen. Aber er betrat diesen Boden nicht auf den Pfaden der klassizistischen Richtung Johannes Brahms’, sondern von Wagners Musik kommend.
Das Sextett ist einsätzig, die Form dieses Satzes frei phantasierend. Der Ueberreichtum an Themen und deren Verarbeitung offenbaren sogleich die grosse Kunst Schönbergs. In der Kürze der Themen, ihrer ungebundenen Ablösung und der so entstehenden freien Architektonik dieser Musik, ist das Sextett bereits eine Vorahnung der heutigen Werke Schönbergs. An neuen melodischen und harmonischen Wirkungen überragt es zur Zeit seiner Entstehung alles; im Klang ist es ein Wunder und ohne jedes Vorbild in der Kammermusik. Ich zitiere ein Thema daraus, das im Keime schon alle für Schönbergs Melodik so charakteristischen Merkmale enthält.
»Harmoniefremde« Töne, chromatische Folgen geben deutlich die Richtung zu der immer fortschreitenden und in Schönbergs heutigen Werken gänzlich erfolgten Loslösung von der Tonalität. Ausserdem: die freie, schwebende Rhythmik, für die der Taktstrich ganz belanglos ist. Zum erstenmal wurde das Sextett in Wien vom Quartett Arnold Rosés gespielt; seitdem hatte es wiederholt Aufführungen in Städten Deutschlands und Oesterreichs.

 


Aehnlich revolutionär sind auch die dem Sextett vorangehenden Lieder op. 1, 2 und 3. Ihre Gedichte sind von Levetzow, Dehmel, Schlaf, Keller, Jacobsen, Lingg und aus »Des Knaben Wunderhorn«. Schönbergs Lieder stehen fern ab von deklamatorischen und illustrierenden Absichten. Sie sind Lieder im Sinne Schuberts, Schumanns oder Mahlers und ganz und gar durchglüht von der so unerhört ausdrucksvollen Melodik Schönbergs.
An das Sextett schliessen sich die »Gurre-Lieder« nach J. P. Jacobsens Dichtung. Das Werk zerfällt in drei vollständig abgeschlossene Teile und ist für grosses Orchester, Soli, drei vierstimmige Männerchöre und einen am Schlusse des Werkes verwendeten gemischten Chor geschrieben. Ausserdem wirkt in einer melodramatischen Episode vor dem Schlusschor ein Sprecher mit.
Die Partitur der »Gurre-Lieder« zeigt folgende Besetzung des Orchesters: 8 Flöten (Piccolos), 5 Oboen (Englisch-Hörner), 7 Klarinetten, 5 Fagotte (Contra-F.), 10 Hörner (Wagner-Tuben), 5 Trompeten (Bass-Trompete), 7 Posaunen, 1 Kontrabass-Tuba, ausser 6 Pauken vielerlei Schlagwerk, 4 Harfen, Celesta, ein möglichst grosser Streicherchor.
Im Jahre 1900 hat Schönberg dieses Werk geschrieben, und bis heute hat es noch keine vollständige Aufführung erlebt. Nur der erste Teil ist 1909 (!) in Wien mit Klavier (!!) aufgeführt worden. Es ist die allergrösste Pflicht der in Betracht Kommenden, diesem Werke zu einer würdigen Aufführung zu verhelfen. Diese stellt ja grosse Anforderungen, aber man ist ähnlichen Aufgaben schon gerecht geworden; warum nicht in diesem Falle?
Die einzelnen Gesänge jedes Teiles sind geschlossen gebaute Lieder, gehen aber durch Zwischenspiele symphonisch ineinander über.
Ich führe ein Thema aus den »Gurre-Liedern« an, um den Weg der Melodik Schönbergs weiter zu verfolgen.

An dieser Melodie fallen besonders die in Schönbergs Musik so oft vorkommenden weiten Intervalle auf.


Unerhört kunstvoll und von nie gehörten Klangwirkungen sind die von drei vierstimmigen Männerchören ausgeführten Gesänge von Valdemars Mannen im dritten Teile. Das dem letzten dieser Gesänge folgende und die Dichtung abschliessende Gedicht »Des Sommerwindes wilde Jagd« hat Schönberg so gestaltet: nach einem längeren Orchesterzwischenspiele trägt ein Sprecher unter Begleitung des Orchesters in langsam singendem Tonfalle das Gedicht bis zu den Worten »Seht, die Sonne!« vor; da aber löst der gemischte Chor mit acht Einsätzen »Seht« den Sprecher ab. Die Wirkung dieses Choreinsatzes ist unbeschreiblich. Der nun folgende und das Werk abschliessende Chor ist von hinreissendster Schönheit. Ueber einem wunderbar ausdrucksvollen Männerchor als harmonischer Stütze führen Sopran, 1. und 2. Alt und die erste Hälfte des 1. Tenors einen Doppelkanon aus. Die beiden gleichzeitig einsetzenden Themen sind die [nachfolgenden]:


Aufs erste Viertel des zweiten Taktes setzen 2. Alt und 1. Tenor ein. Wer wohl verschlösse sich der Schönheit dieser Musik! Diese Stelle wird von einer kleinen Besetzung der einzelnen Stimmen ausgeführt. Sie geht in einen durchaus kanonisch und imitatorisch geführten und das Werk abschliessenden Gesang der ganzen Chormassen von überschwenglichstem Ausdruck über.
Von kolossalster Wirkung ist die Instrumentation dieser »Gurre-Lieder«. Man denke sich Schönbergs im Sextett ausgedrücktes Klangempfinden auf den ungeheuren Apparat dieses Orchesters übertragen, um eine Ahnung von der Pracht und dem Reichtum dieser Instrumentation zu bekommen.
Den »Gurre-Liedern« folgt die symphonische Dichtung »Pelleas und Melisande«, nach dem Drama von Maurice Maeterlinck. (1902 in Berlin komponiert.) Besetzung des Orchesters: 4 Flöten (Piccolos), 4 Oboen (E.-H.), 4 Fagotte (Kontra-F.), 8 Hörner, 4 Trompeten, 5 Posaunen, Kontrabass-Tuba, Schlag-werk, 2 Harfen, 32 Violinen, je 12 Bratschen und Celli, 8 Kontrabässe.
Auch dieses Instrumentalwerk Schönbergs ist einsätzig. Es dauert nahezu eine Stunde. Sein Bau ist ganz frei. Riesengross ist die Anzahl der Themen. Sie sind meist kurz – eine Ausnahme bilden ein scherzoartiges und ein lang ausgesponnenes Adagio-Thema –, treten frei phantasierend ein und werden sofort äusserst kunstvoll verarbeitet.
Unübersehbar ist der Reichtum dieser Durchführungen und Variationen. Jedes Thema zeigt sich in tausenderlei Gestalten. Seine Deutung ist in Schönbergs Kunst unermesslich. Die Instrumentation dieses Werkes ist von einem wunderbaren Pathos und voll neuer nie dagewesener Farben.
Ich führe zwei Themen aus »Pelleas« an, um zu zeigen, wie neu in Harmonik und Melodik sie sind, und wie in dieser Musik das tonale Element schon sehr in den Hintergrund tritt.


Schönberg verwendet in »Pelleas« als einer der Ersten die Ganztonskala und auf ihr beruhende Akkorde. Als Beispiel eine Stelle, an der sich jene in einer Folge von grossen Terzen darstellt:


Nun eine Tatsache, die zeigt, wie Schönberg nichts anderem als der unmittelbaren Eingebung folgend seine harmonischen Eroberungen ausführt: an einer einzigen Stelle in »Pelleas«, in den folgenden zwei Takten, steht einer von den Quartenakkorden (*), die Schönberg in der viel später geschriebenen »Kammersymphonie« op. 9 neuerdings gefunden und dort erst bewusst ausgestaltet hat.


»Pelleas« wurde im Jänner 1905 zum erstenmal in Wien in einem Konzerte der »Vereinigung schaffender Tonkünstler« unter Schönbergs Leitung aufgeführt. Die zweite und bisher letzte Aufführung erlebte das Werk im Oktober 1910 in Berlin unter Oskar Fried. Februar 1912 wird es Schönberg selbst in Prag dirigieren.
Nach »Pelleas« entstehen jene Instrumentalwerke, in denen Schönberg im Gegensatze zu der frei phantasierenden seiner bisherigen eine neue auf das Quartett und die Symphonie der Klassiker zurückgreifende Form schafft. Die sind: das I. Streichquartett (D-moll) op. 7, die Kammersymphonie op. 9 (E-dur) und das II. Streichquartett op. 10 (Fis-moll). Dieses aber leitet bereits zum heutigen Stil von Schönbergs Schaffen über.
Zwischen »Pelleas« und dem I. Quartett stehen die 6 Orchesterlieder op. 8. Ihre Gedichte sind von Hart, aus »Des Knaben Wunderhorn« und den Sonetten von Petrarca. Sie bilden in ihrer streng thematischen Struktur einen Uebergang zu den ihnen folgenden Werken.
Im ersten Streichquartett verschmilzt Schönberg die einzelnen Satzformen des klassischen Quartetts zu einem einzigen grossen Satze, dessen Mitte eine grosse Durchführung einnimmt. Sie ist das innere Band dieser Verschmelzung. Vor ihr stehen der einem Hauptsonatensatze entsprechende Teil mit einem langen Fugato zwischen Hauptthema und Seitensatz und das Scherzo (mit Trio); nach ihr die Reprise des Hauptthemas, der an diese sich anschliessende Adagioteil, die Wiederholung des Seitensatzes und endlich ein Rondo-Finale, dessen Themen Umbildungen solcher der vorhergehenden Teile sind. Im Grunde ist die Form dieses Quartetts die eines einzigen grossen Sonatensatzes. Zwischen der ersten Durchführung und der Reprise sind das Scherzo und die große Durchführung eingeschoben, und die Reprise ist durch das zwischen Hauptthema und Seitensatz stehende Adagio ausgedehnt. Das Rondo-Finale könnte man in diesem Falle als eine weitausgebaute Coda auffassen.
Wie die Bewusstheit seines Formgefühls erfährt auch die Kunst seiner Thematik in op. 7 eine immense Steigerung. Wunderbar ist, wie Schönberg aus einem Motivteilchen eine Begleitungsfigur bildet, wie er die Themen einführt, wie er die Verbindungen der einzelnen Hauptteile gestaltet. Und alles thematisch! Es gibt sozusagen keine Note in diesem Werke, die nicht thematisch wird. Diese Tatsache ist beispiellos. Am ehesten besteht da noch ein Zusammenhang mit Johannes Brahms.
Durch diese Kunst der Themenverarbeitung wird Schönbergs Quartett von einer grossartigen Polyphonie.
Als Beispiel für Schönbergs Melodik in diesem Werke führe ich ein Thema aus dem Adagioteile an.


Die klangliche Wirkung dieses Quartetts ist voll Neuheit. Das hat zunächst einen inneren Grund: die neue Melodik und Harmonik dieser Themen. Dann aber auch einen äusseren; der besteht in der Verwendung neuer, im modernen Orchester gewonnener Klangmöglichkeiten der Streichinstrumente: Sordinen, »am Steg«, col legno, Flageoletts usw. Man kann hier nicht von äusserlichen Instrumentationseffekten sprechen. Diese neuen Klangmittel sind aus dem Ausdruck dieser Musik geboren. Dazu tritt noch die wundervollste Ausnützung des Streicherklanges in den verschiedenen Lagen.
Dieses Quartett hat seine Uraufführung in Wien durch das Rosé-Quartett erlebt. Von diesem wurde es auch beim XXXIII. Tonkünstlerfest in Dresden gespielt, nachdem es das dortige Petri- Quartett als unausführbar zurückgewiesen hatte.

Es folgt die Kammersymphonie op. 9 (E-dur). Schönberg wählte diesen Titel, weil das Werk infolge der durchaus solistischen Besetzung und Behandlung der Instrumente den Charakter eines Kammermusikwerkes trägt. Bei seiner ersten und einzigen (!) Aufführung in Wien durch das Rosé-Quartett und die Bläservereinigung des Wiener-Hofopernorchesters ist es auch ohne Dirigenten gespielt worden.
Die Besetzung ist folgende: I Flöte (abwechselnd mit kleiner Flöte), I Oboe (abwechselnd mit Englisch-Horn), I D- (auch Es-) Klarinette, I A- (auch B-) Kl., I Basskl. (A u. B), I Fagott, I Kontrafagott, 2 Hörner, eine I., eine 2. Geige, I Bratsche, I Violoncell, I Kontrabass. Schönberg fügt hinzu: »Die Streicher können im Bedarfsfalle auch mehrfach (6, 6, 4, 4, 3) besetzt werden.«
Auch dieses Werk ist seiner Form nach eine Verschmelzung der klassischen Satzformen. Und die Reihenfolge dieser ist eine ähnliche wie im I. Quartett. Aber die Verhältnisse sind hier ganz andere. Die Kammersymphonie ist wesentlich kürzer. Sie ist hellen, durchaus beweglichen Charakters. Die thematische Kunst darin ist gegen die des I. Quartetts noch gesteigert, da Schönberg hier in gleicher Weise mit 15 Instrumenten arbeitet. Harmonisch und melodisch bringt das Werk etwas ganz Neues; die Quartenharmonien und aus Quartenfolgen gebildete melodische Phrasen. Der Anfang des Werkes zeigt beides:


Ausserdem erlangen in diesem Werke die Ganztonskala und die daraus entwickelten Harmonien eine überwiegende Bedeutung.
Von grösster Kunst ist, wie Schönberg die Tonart behandelt. Sie ist dort, wo sie angestrebt ist, deutlich vorhanden, aber nur mehr durch Umschreibungen und Gegensätze.
Ich führe das Seitenthema des ersten Hauptteiles an; das scheint in seinem Verlaufe keiner bestimmten Tonart anzugehören, und doch hat man unbedingt den Eindruck von A-dur.


Aehnliches bietet das Thema des langsamen Teiles:


Aber diese Beispiele zeigen ganz klar, wie nunmehr Schönbergs Musik ganz von der Tonalität wegdrängt. Die wird von der Ganztonskala, den Quartenakkorden und dieser Melodik ganz zersetzt.
An allen diesen Erscheinungen mitbeteiligt sind die 8 Lieder op. 6. Sie sind ungefähr zur Zeit des I. Quartetts entstanden. Schönbergs Lieder sind oft gleichsam Studien zu den Revolutionen der grossen Werke. In den Liedern op. 6 setzt sich Schönberg auch mit dem Problem des Klaviersatzes auseinander. Die Gedichte sind von Hart, Dehmel, Remer, Conradi, Keller, Mackay, Aram und Nietzsche.
Zwischen der Kammersymphonie und dem II. Streichquartett stehen ein achtstimmiger gemischter Chor a cappella, – ein Werk von kunstvollster Polyphonie, wunderbarster Klangwirkung und erhabenstem Ausdruck; die Uraufführung dieses Chores war im Dezember 1911 in Wien unter der Leitung Franz Schreckers (Philharmonischer Chor) – und 2 Balladen für Gesang und Klavier.
Nun das II. Streichquartett (Fis-moll) op. 10, mit Gesang im 3. und 4. Satze.
I. Satz: Mässig, 2.: Sehr rasch, 3.: »Litanei«, 4.: »Entrückung«. Die Gedichte der Sätze mit Gesang sind aus dem »Siebenten Ring« von Stefan George.
Wie schon erwähnt, hat dieses Quartett trotz seiner vier Sätze einen formellen Zusammenhang mit op. 7 und 9: es steht auch hier nach dem Scherzo ein grosser Durchführungsteil, die »Litanei«. Sie ist ein Variationensatz, dessen Thema eine Kombination aus Motiven des ersten und zweiten Satzes darstellt.


Aehnlich baute Schönberg das »Modell« der grossen Durchführung in der Kammersymphonie. Die Gesangsstimme bringt neue Motive, die in den Variationen mitverarbeitet werden. Der letzte Satz »Entrückung« hat keinen Zusammenhang mit irgendeiner bekannten Instrumentalform. Er folgt frei dem Gedichte. Die lange instrumentale Einleitung bereitet in ihrer Aufgelöstheit und dem reichen Wechsel ihrer Motive bereits die Art der letzten Werke Schönbergs vor.
Dieses Quartett bringt ein neues Moment in Schönbergs Schaffen: die Kürze. Es hat sich schon in der Knappheit der Kammersymphonie angekündigt und spricht sich im Fis-moll-Quartett deutlich in dessen Gliederung in vier kürzere Sätze aus. Von der Harmonik dieses Werkes ist nur ein kleiner Schritt mehr zur vollständigen Aufgabe der Tonart. Der letzte Satz hat auch, obwohl der Hauptsache nach Fis-dur angehörig, keine Vorzeichnung mehr. Durch Alteration werden die Quartenakkorde zu noch nie gehörten Harmonien, die frei von jeder tonalen Beziehung sind. Ein Thema aus dem IV. Satze:


Man vergleiche diese Melodie mit der aus dem Sextett angeführten, um zu sehen, welche Entwicklung die Melodik Schönbergs nun genommen hat. Das innere Ohr fühlt den tiefen Zusammenhang dieser Melodien. Chromatik, zur begleitenden Harmonie dissonierende Töne, weite, bisher ungewohnte Intervalle, z. B. die grosse Sept, sind die ausschliesslichen Bestandteile dieser Melodik.
Auch die Uraufführung dieses Quartetts fand durch Arnold Rosé statt; im Dezember 1908.
Dies alles führt unmittelbar zum Stil des nächsten Werkes, zu den 15 Liedern aus dem »Buch der hängenden Gärten« von Stefan George.
Als im Jänner 1910 der »Verein für Kunst und Kultur« in Wien den I. Teil der »Gurre-Lieder« mit Klavier, die »George-Lieder« und die Klavierstücke op. 11 zur Uraufführung brachte, schrieb Schönberg in das Programm folgendes Vorwort:
»Die Gurre-Lieder habe ich anfangs 1900 komponiert, die Lieder nach George und die Klavierstücke 1908. Der Zeitraum, der dazwischen liegt, rechtfertigt vielleicht die grosse stilistische Verschiedenheit. Die Vereinigung solch heterogener Werke im Aufführungsrahmen eines Abends bedarf, da sie in auffälliger Weise einen bestimmten Willen ausdrückt, vielleicht ebenfalls einer Rechtfertigung.
Mit den Liedern nach George ist es mir zum erstenmal gelungen, einem Ausdrucks- und Form-Ideal nahezukommen, das mir seit Jahren vorschwebt. Es zu verwirklichen, gebrach es mir bis dahin an Kraft und Sicherheit. Nun ich aber diese Bahn endgültig betreten habe, bin ich mir bewusst, alle Schranken einer vergangenen Aesthetik durchbrochen zu haben; und wenn ich auch einem mir als sicher erscheinenden Ziele zustrebe, so fühle ich dennoch schon jetzt den Widerstand, den ich zu überwinden haben werde; fühle den Hitzegrad der Auflehnung, den selbst die geringsten Temperamente aufbringen werden, und ahne, dass selbst solche, die mir bisher geglaubt haben, die Notwendigkeit dieser Entwicklung nicht werden einsehen wollen.
Deshalb schien es mir angebracht, durch die Aufführung der Gurre-Lieder, die vor acht Jahren keine Freunde fanden, heute aber deren viele besitzen, darauf hinzuweisen, dass nicht Mangel an Erfindung oder an technischem Können, oder an Wissen um die anderen Forderungen jener landläufigen Aesthetik mich in diese Richtung drängen, sondern dass ich einem inneren Zwange folge, der stärker ist, als Erziehung; dass ich jener Bildung gehorche, die als meine natürliche mächtiger ist, als meine künstlerische Vorbildung.«
Die George-Lieder müssen wohl immer vollzählig und in unmittelbarer Folge vorgetragen werden. Ihr Zusammenhang ist zwar kein thematischer, aber es ist deutlich eine innere architektonische Anlage zu spüren. Schönberg hat in ihnen eine dem sprachlichen Vortrage dieser Gedichte vollständig kongruente, höchst ausdrucksvolle Melodik geschaffen. Dem Klavier ist ein fabelhafter Reichtum an Klangwirkungen abgewonnen.
Die George-Lieder sind zum Teil schon vor dem II. Quartett entstanden. Was namentlich die unmittelbar vorhergehenden Werke harmonisch vorbereiteten, ist in ihnen erfüllt: die Tonart ist gänzlich verschwunden. Aber über dieser Harmonik wacht eine absolut zwingende Notwendigkeit.
Schönberg schreibt in seiner »Harmonielehre« darüber: »Ich entscheide beim Komponieren nur durch das Gefühl, durch das Formgefühl. Dieses sagt mir, was ich schreiben muss, alles andere ist ausgeschlossen. Jeder Akkord, den ich hinsetze, entspricht einem Zwang; einem Zwang meines Ausdrucksbedürfnisses, vielleicht aber auch dem Zwang einer unerbittlichen, aber unbewussten Logik in der harmonischen Konstruktion. Ich habe die feste Ueberzeugung, dass sie auch hier vorhanden ist; mindestens in dem Ausmass, wie in den früher bebauten Gebieten der Harmonie. Und ich kann als Beweis dafür anführen, dass Korrekturen des Einfalls aus äusserlich-formalen Bedenken, zu denen das wache Bewusstsein nur zu oft geneigt ist, den Einfall meist verdorben haben. Das beweist für mich, dass der Einfall zwingend war, dass die Harmonien, die dort stehen, Bestandteile des Einfalls sind, an denen man nichts ändern darf.«
Den Liedern nach George folgen die drei Klavierstücke op. 11.
Jedes dieser Stücke ist kurz. Das erste und zweite haben formell noch einen leisen Zusammenhang mit der dreiteiligen Liedform. Die kurzen und einander unmittelbar ablösenden Motive werden noch wiederholt und weiter ausgesponnen. Im dritten ist aber auch diese Fessel durchbrochen; hier gibt Schönberg auch die motivische Arbeit auf. Es wird kein Motiv weiterentwickelt, höchstens eine kurze Tonfolge unmittelbar wiederholt. Einmal aufgestellt, drückt das Thema alles aus, was es zu sagen hat; es muss wieder neues kommen. Ich bringe eine Stelle aus dem ersten Stücke, die ein Bild von der Eigenart dieser Themen, der Verbindung gänzlich entgegengesetzter Motive, dem Reichtum dieses Klaviersatzes und ausserdem die Verwendung eines bisher ganz unbeachtet gebliebenen Klangeffektes am Klavier, nämlich seiner Flageolettöne zeigt.


Nach den Klavierstücken hat Schönberg fünf Stücke für Orchester geschaffen.
Die Themen auch dieser Stücke sind ganz kurz gefasst, werden aber verarbeitet. Das Aufgeben jeglicher thematischen Arbeit hat Schönberg erst im Monodrama »Erwartung« wieder durchgeführt. In den Orchesterstücken ist nicht die Spur irgendeiner überlieferten Form. Diese ist ganz ungebunden. Man könnte hier vielleicht von einer Prosa der Musik reden. Von diesen Formen gilt aber, was Schönberg bezüglich seiner Harmonik an der früher angeführten Stelle aus der »Harmonielehre« sagt. Auch hier waltet eine Gesetzmässigkeit. Die überzeugende Macht dieser Musik bürgt dafür.
Ein Thema aus dem zweiten Stück:


Wie unendlich zart ist der Ausdruck dieses Themas, wie wunderbar die Verkettung dieser Stimmen. Die Stelle gibt auch einen Einblick in die instrumentalen Wunder dieser Partitur. Wie eigentümlich ist der erste Akkord instrumentiert.
Darüber ausführlicher anlässlich der Instrumentation des Monodramas.
Eine ganz eigentümliche Klangwirkung bietet das dritte Stück.
Die ersten Takte lauten:


Schönberg bemerkt dazu: »Der Wechsel der Akkorde hat so sacht zu geschehen, dass gar keine Betonung der einsetzenden Instrumente sich bemerkbar macht, so dass er lediglich durch die andere Farbe auffällt.«
Durch diesen, sich durch das ganze Stück hinziehenden Farbenwechsel der Akkorde entsteht ein eigentümlich schimmernder Klang, vergleichbar, wie Schönberg sagt, mit dem immerwechselnden Farbeneindruck einer mässig bewegten Seeoberfläche.
Unmittelbar nach den Orchesterstücken hat Schönberg sein erstes Bühnenwerk »Erwartung«, Monodrama von Elsa [recte: Marie] Pappenheim, geschrieben. Eine Frau ist die Trägerin der Begebenheit, die in einer Reihe kurzer und durch kurze Zwischenspiele der Musik verbundenen Verwandlungen vorgeführt wird. Zu später Abendstunde erwartet die Frau am Rande eines Waldes ihren Liebhaber, sucht ihn die ganze Nacht im Walde und findet ihn endlich getötet neben der Landstrasse, als schon der Morgen dämmert.
Das Werk dauert ungefähr eine halbe Stunde. Auch hier bei einem Bühnenwerke diese Kürze!
Die Partitur dieses Monodramas ist ein unerhörtes Ereignis. Es ist darin mit aller überlieferter Architektonik gebrochen; immer folgt Neues von jähster Veränderung des Ausdrucks.
Dem entspricht auch die Instrumentation: ein ununterbrochener Wechsel nie gehörter Klänge. Es gibt keinen Takt in dieser Partitur, der nicht ein vollständig neues Klangbild zeigte. Die Behandlung der Instrumente ist durchaus solistisch. Mit einem fabelhaften Klanggefühl sind die Lagen der Instrumente ausgenützt. Ganz neu ist die Art, wie Schönberg Akkorde instrumentiert. Ein Beispiel:


Man beachte genau die eigentümliche Setzart; die gedämpfte Trompete mit dem höchsten Tone, dann das Solo-Cello, darunter die Oboe (!), die gedämpfte Posaune mit dem vierten und das gedämpfte Horn mit dem fünften Tone; im zweiten Takte tritt noch der Kontrabass mit einem sechsten Tone dazu; endlich in das ganze hineinverwoben der Klang der Singstimme. Jede Farbe ist aus einer gänzlich verschiedenen Klangfamilie. Es entsteht hier durchaus kein Mischklang; jede Farbe erklingt solistisch, ungebrochen. Da die aber so gewählt ist, dass kein Ton den andern dynamisch übertönt, entsteht trotzdem eine Klangeinheit.
Die Harmonik und Melodik dieses Werkes ist von nie geahntem Reichtum. Schönberg geht darin bis zur Bildung von elf-, im Durchgang auch zwölfstimmigen Akkorden. Beispiel eines elfstimmigen:


Von der Instrumentation dieses Akkordes gilt auch das früher diesbezüglich Gesagte. Die folgende Stelle führe ich an, um eine Anschauung zu geben von der Melodik dieses Werkes und der Art, wie Schönberg hier die Themen verbindet.
Die Melodie der zweiten Geige wird von einer der Flöte abgelöst; in beide greift eine der Gesangsstimme. Im fünften Takt löst diese melodischen Phrasen ein Akkord des Orchesters ab, die Singstimme setzt die von dem Einsatz der Oboe im vierten Takte gegebene Sechzehntelbewegung fort, im Ausdruck dem Sprechton sich nähernd. So strömt diese Musik dahin, fester Geformtes mit Aufgelöstem, rezitativisch Geformtem ablösend, den verborgensten und leisesten Regungen der Empfindung Ausdruck gebend.


Nun kommen noch sechs neue Klavierstücke und das zweite Bühnenwerk die »glückliche Hand«, Drama mit Musik.
Die neuen Klavierstücke sind ganz kurze, unglaublich zarte und ausdrucksvolle Gebilde. Was man auch sagt, alles wird zur Phrase dieser Musik gegenüber. Die Musik der »glücklichen Hand« ist noch unvollendet. Die Dichtung dieses Werkes ist von Schönberg selbst. Sie ist in dem Schönberg gewidmeten Heft Nr. 17 (II. Jahrg.) der Wiener Musikzeitschrift »Der Merker« erschienen.
Was ich zu zeigen versuchte, ist die unerbittliche Notwendigkeit, mit der sich alles im Schaffen Arnold Schönbergs vollzieht.
Jeder, der sich liebevoll dessem Werke hingibt, muss das erkennen. Nur von Neid und Missgunst Verblendete können von »Sensationssucht« u. dgl. sprechen. Da solche Behauptungen das Wirken von Schönbergs Werk belästigen, müssen sie zerstört werden. Aber diesem selbst können sie nichts anhaben: es steht über dem Zeitlichen.

Arnold Schönberg. Mit Beiträgen von Alban Berg et al. München 1912, p. 22–48